Entfremdungsprozess nach der Geburt
Einen starken Einschnitt in die Sexualität erfährt die Partnerschaft vielfach durch die Geburt eines Kindes. Bereits in der Schwangerschaft, aber noch mehr nach der Geburt, ist der Fokus der Mutter ganz auf das Kind gerichtet. In dieser Zeit findet Sexualität wenig bis gar nicht statt. In der Regel können Männer dies auch vorübergehend gut akzeptieren, weil auch ihre eigene Aufmerksamkeit vom Säugling in Anspruch genommen wird - gerade beim ersten Kind. Sexuelle Bedürfnis kehren oft erst langsam zurück, können dann aber schnell stärker werden. Wenn auch viele Monate nach der Geburt die Versorgung des Kindes und die übrigen Alltagspflichten weder Zeit noch Energie für intime Momente lassen, nimmt der Frust beim Partner zu. Dieser drückt sich - je nach Temperament - entweder durch sich verstärkende Konflikte über Kleinigkeiten aus oder durch körperlichen Rückzug.
Der schweizerische Paartherapeut Jürg Willi, Autor zahlreicher Bücher zu Liebe und Partnerschaft, formuliert es so: „Sexuelle Inappetenz der Frau ist im Anschluss an Geburten häufig. Deren Ursachen sind komplex. Teilweise hängen sie mit Erschöpfung zusammen, teilweise mit dem Abzug der Libido vom Mann und der Fokussierung der Aufmerksamkeit und Zärtlichkeit auf das Kind.“ Kinder erwiesen sich als die „gravierendsten Lustkiller“, da sie „eine entspannte Zweisamkeit erschweren und eine räumliche und zeitliche Abgrenzung bei vielen Paaren nicht zulassen, oder wenn überhaupt, dann erst, wenn beide Partner für Sex zu müde sind.“
Eine wichtige Rolle dabei spielt, dass sich mit der Geburt neue Abläufe etablieren. Zusätzliche Routinen entstehen durch bisher nicht dagewesene Aufgaben, die den Tag füllen. In diesem Prozess wäre es wichtig, dass das Paar einen neuen Rhythmus auch für die eigene Paarbeziehung findet. Für das Erleben von Zweisamkeit und natürlich auch für Sexualität. Für Frauen besteht die besondere Herausforderung darin, sich zunächst wieder wohl in ihrem durch die Geburt stark veränderten Körper zu fühlen. Wie viel Unterstützung sie dabei von ihrem Partner benötigen, ist individuell unterschiedlich. Doch auch wenn das Bedürfnis nach entsprechender Bestätigung stark ausgeprägt ist, wird es von Männern oft nicht im erforderlichen Maße wahrgenommen.
Je länger es nach der Geburt eines Kindes dauert, wieder Raum für gemeinsame Zeit als Paar zu finden, umso mehr ziehen sich beide in ihre Rollen zurück. Jeder ist dann damit beschäftigt, das zu bewältigen, was den jeweiligen Anteil an den alltäglichen Pflichten ausmacht. Die Erkenntnis wächst meist nur langsam, dass wichtige Teile der früheren Verbundenheit plötzlich fehlen: körperliche Intimität, Aufmerksamkeit und Anerkennung. Das Defizit an Bestätigung innerhalb der Beziehung versuchen beide auf unterschiedliche Weise zu kompensieren.
Beim Mann tritt häufig das berufliche Fortkommen in den Fokus. Der Frau bleiben - insb. in der ersten Phase der Kinderbetreuung - vor allem Tätigkeiten im Rahmen des häuslichen Umfelds. Die zum Teil noch ungewohnten neuen Aufgaben sowie die durch das Kind gebundene Aufmerksamkeit stellen dabei eine besondere Herausforderung dar. Dies wird vom Partner oft nicht gesehen und gewürdigt. Nicht selten entsteht dann ein Teufelskreis aus steigenden Ansprüchen, nachlassenden Energiereserven und fehlender Bestätigung. Jürg Willi stellt fest: je mehr die berufliche Karriere der Frau eingeschränkt wird, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie ihrem Mann sein - meist gesteigertes - berufliches Engagement neidet.
Verharren beide in dieser Situation, führt dies in der Regel zu Unzufriedenheit, Konflikten und daraus resultierenden Verletzungen. Es wird dann immer schwerer, wieder einen intimen Zugang zueinander zu finden. Der Körper des anderen scheint fremd geworden. Es gibt zwar eine große Sehnsucht nach dem, was verloren gegangen ist, aber zugleich eine starke emotionale Blockade. In der Folge kann bei beiden die Bereitschaft wachsen, die sehnsüchtig vermisste körperliche Nähe außerhalb der Partnerschaft zu suchen.
Krise ist ein produktiver Zustand!
Man muss ihr nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen.
(Max Frisch)