Nachlassende Leidenschaft
„Die sexuelle Überraschung wird vom Alltagstrott eingeholt, dem Tagtäglichen mit seinen geregelten Abläufen, seinem Rhythmus und seiner Struktur. Das Außergewöhnliche, die Eroberung, die Spannung fällt unter den Tisch. Stattdessen nehmen die alltäglichen Sorgen und Belastungen überhand, der Stress im Beruf, die Existenzsorgen, das Erledigen des Haushalts, die Regelung und Bezahlung der Rechnungen, das Ausführen von Reparaturen, die abendliche Müdigkeit und Erschöpfung.“ So beschreibt der schweizerische Paartherapeut und Buchautor Jürg Willi die Gründe für das übliche Nachlassen der Leidenschaft in einer länger andauernden Partnerschaft.
Jeder hat schon erlebt, dass die Intensität des gegenseitigen Begehrens im Laufe einer Beziehung sinkt. Am Anfang ist der Sex fast immer spannend. Man möchte den Körper des anderen erforschen, herausfinden, was Lust bereitet. Mit Wünschen, Fantasien wird experimentiert, die beiderseitigen Grenzen ausgetestet. Je besser wir den Partner jedoch kennen, was er mag und was ihn abtörnt, wie wir seine Erregung anfachen oder ihn zum Höhepunkt bringen, desto eher wiederholen sich die sexuellen Begegnungen. Beide wissen jetzt, was gefällt und was nicht, steuern dann recht zielsicher auf das zu, was sich als Konsens und bevorzugter Ablauf etabliert hat. Die Sexualforscher Masters und Johnson nennen die Monotonie der sexuellen Beziehung als wichtigsten Faktor des zunehmend geringeren Interesses am Sex innerhalb der Partnerschaft.
Dass der Sex zur Gewohnheit wird, kann jedoch unterschiedlich erlebt werden. Es ist auch eine Frage der Persönlichkeit, ob wir eher Stabilität und Berechenbarkeit oder Aufregung und Abwechslung brauchen. Unterschiedlich wird oft auch empfunden, in welchem Maße die nachlassende Leidenschaft als Verlust erlebt wird. Auf der einen Seite gibt es die Erfüllung durch Beruf, Kinder, Familie, Freundeskreis, soziales Engagement etc. Nicht im Sinne einer Ersatzbefriedigung, sondern als Sinn und Fülle des Lebens. Auf der anderen Seite können Selbstzweifel immer nagender werden, wie die Frage ob man noch begehrenswert ist. An der Haltbarkeit der Beziehung wird gezweifelt, das Dahinschwinden der Liebe befürchtet.
Genau hier lauert die größte Gefahr: die gedankliche Übertragung von nachlassender Sexualität auf nachlassende Verbundenheit oder gar Liebe. Das Schwinden der Lust also mit dem Schwinden der Liebe gleichzusetzen. Vielen fällt es schwer anzuerkennen, dass die sexuelle Anziehung schwindet, wenn die Vertrautheit zunimmt. Dass es kein Widerspruch ist, dass eine Beziehung auf der einen Seite tiefer und vertrauter werden kann, auf der anderen Seite aber das sexuelle Verlangen geringer wird.
Wem es schwer fällt, diese Entwicklungen zu akzeptieren, läuft Gefahr irgendwann einen Schuldigen dafür zu suchen, dass die vermisste Intensität beim Sex nicht im ersehnten Maße wiederkehrt. Je nachdem, ob man die Schuld eher beim Partner sucht oder bei sich selbst, folgen dann oft entweder Selbstzerfleischung oder zermürbende Vorwürfe.
Krise ist ein produktiver Zustand!
Man muss ihr nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen.
(Max Frisch)